Projekt Digitale Raynal-Edition

Dem Projekt liegen die digitalisierten Fassungen von Guillaume-Thomas Raynals Histoire philosophique et politique des établissements et du commerce des Européens dans les deux Indes (Amsterdam 1770, Den Haag 1774, Genf 1780, Paris 1820) zugrunde, die ‚genetisch‘ in ihrer Erweiterung der Ursprungsfassung dargestellt werden sollen.
Bisher ist stets der Edition der Fassung von 1780 der Vorzug gegeben worden, gegenüber der die früheren Fassungen als ‚Defizit’ verstanden wurden. Diese Lösung ist historisch unbefriedigend: die Wirkungsgeschichte des Textes beruht gerade darauf, dass ein Ursprungstext erweitert wird, und nicht darauf, dass der späteste Text frühere Varianten verzeichnet.
Mit einem Textvergleich in genetischer Perspektive wird erstmals deutlich, wie sehr ein Zentraltext der europäischen Aufklärung sich in seiner Textform zwischen 1770 und 1820 radikalisiert, und – unter geistes-, mentalitäts- und buchgeschichtlichem Gesichtspunkt – wie sehr dieser Prozess die intellektuellen Diskussionen der Hoch-Zeit der europäischen Aufklärung widerspiegelt.

Informatische Verfahren als Grundlage

Informationstechnische Verfahren werden in der Textkritik bisher kaum genutzt. Gerade genetische Editionen, in denen die Abhängigkeit von zu unterschiedlichen Zeitpunkten entstandenen Textzeugnissen erkennbar werden, können jedoch durch geeignete informatische Verfahren elektronisch unterstützt werden.
Das gilt sowohl für die Edition von mehrfach umgearbeiteten Texten, deren verschiedene Fassungen ein jeweils ‚eigenes Recht‘ aufweisen, jeweils ihr eigenes Leben entfalten und zu jeweils zeittypischer Rezeption führen, als auch für Texte, an denen bekanntermaßen mehrere Autoren mitgearbeitet haben sowie für Textprojekte, bei denen aus ideologischen oder einem spezifischen Zeitdruck geschuldeten Grund mehrere Autoren Textanteile beigetragen haben.

Im Mittelpunkt des Projektes steht die Differenzanalyse von Textvarianten. Neben den eigentlichen Methoden zur Unterstützung der Differenzierung von Texten spielt die Visualisierung der Varianten eines Textes zusammen mit deren eigentümlichen Gemeinsamkeiten und Differenzen eine zentrale Rolle. Wichtig sind dabei eine möglichst einfache (intuitive) Handhabung der Werkzeuge und eine möglichst so gestaltete Verallgemeinerung der Werkzeuge, dass für ein konkretes Vorhaben ein nur begrenzter und bei Arbeitsbeginn abschätzbarer Anpassungsbedarf der Werkzeuge erforderlich ist.

Pilotprojekt Lateinamerikadarstellungen

Der Textvergleich erfolgt für die Darstellungen Lateinamerikas in den Büchern 6-8 der Histoire des deux Indes, somit für einen inhaltlich klar umgrenzten Teil des Werkes, dessen gedankliche Radikalisierung bis heute für die Aufklärungsforschung von großem Interesse ist.
Anders als in „klassischen“ Druckeditionen wird in diesem Projekt jedoch keine philologische Fragestellung festgelegt, sondern die Textbasis so zur Verfügung gestellt, dass verschiedene Fragestellungen bearbeitet werden können.
Die Texte wurden nach den Richtlinien der Text Encoding Initiative (TEI) kodiert und werden zur freien wissenschaftlichen Weiterverarbeitung zur Verfügung gestellt.

Editionsprobe von Buch 6

Die im Projekt entwickelten Ansätze zur Aufbereitung der Evolution des Werks werden in der interaktiven, webbasierten Arbeitsumgebung LERA verwirklicht.
Die Editionsprobe des 6. Buchs der Histoire als synoptische Gegenüberstellung der vier Fassungen findet sich unter: http://lera.uzi.uni-halle.de/editions/1/edit